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Im ständigen Krisenmodus: Kann Europa bestehen?

Jean Asselborn (luxemburgischer Außenminister bis 2023) zur Lage der EU in schwierigen Zeiten.

Jean Asselborn, er hat Europa und das Bild Luxemburgs in der Welt geprägt, gilt als bodenständig und Freund klarer Worte. Der frühere Bürgermeister seiner Heimatstadt Steinfort wurde 2010 für seine Verdienste um die deutsch-luxemburgischen Beziehungen mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Im Talk mit Jörg Jung redet der ehemalige Außenminister über die Stellung der EU angesichts vieler globaler Krisen...

Jörg Jung: 
Bei uns im NEU DENKEN Podcaststudio ein ganz besonderer Gast, auf den ich mich jetzt schon seit Stunden und Tagen gefreut habe, Jean Asselborn, der ehemalige Außenminister von Luxemburg. Bonjour.

Jean Asselborn: 
Bonjour, Monsieur.

Jörg Jung: 
Schön, dass wir uns hier auf Mallorca treffen. Es ist aber auch alle Brisanz momentan in diesen Zeiten, dass man auch mal den Außenminister von Luxemburg hier vors Mikrofon kriegt. Ich selber bin ja Saarländer, und wir können ja von uns behaupten, die Luxemburger und die Saarländer, wir leben in Europa, wie es Eegiel (Eigelb) im Ei, schön behütet mit allem drum und dran, aber auch Luxemburg, ich gehe mal davon aus, kriegt diese Brisanz eben mit, in der Europa sich befindet. Also was ist um uns herum los, Herr Asselborn?

Jean Asselborn: 
Ja, was ist um uns los? Ich glaube, ich war ja 20 Jahre dabei, es war nie einfach. Natürlich sind zwei Daten, die glaube ich, auch das Leben in der Europäischen Union total verändert haben. Und das ist der 24. Februar 2022, das ist der 7. Oktober 2023. Von da an ist nichts mehr so, wie es einmal war. Wir waren konfrontiert mit Kriegen, den ersten Krieg, also als ich anfing, das war noch der Irakkrieg, wo wir zusammenkitten mussten, wieder in Europa, mit Amerika, aber auch mit dem Nahen Osten. Aber das hat man irgendwie versucht dann zu managen, dass man wusste, jetzt ist dieser Krieg vorüber und man konnte sich an die Arbeit machen. Dieser Krieg hier von Putin über die Ukraine, das ist schon etwas, was nicht nur schreckliches Blut kostet in der Ukraine, es ist auch ein Krieg, der das ganze internationale Recht, die ganze Charta der Vereinten Nationen auf den Kopf setzt. Das ist etwas, was ich glaube, es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gab. Jedenfalls nicht in den Sphären, in denen wir denken. Es gibt andere Kriege auf der Welt, die vielleicht noch schlimmer sind. Denken Sie an Äthiopien, was im Tigray geschieht, höchstwahrscheinlich auch im Sudan, wo Menschen unheimlich leiden. Aber das, was in Gaza jetzt passiert, die Bilder, die wir sehen, und auch die Bilder aus der Ukraine, das tut schon weh. Das ist etwas, wo wir geglaubt hatten als Europäer, dass das in unseren Sphären nicht mehr geschehen könnte. Natürlich, wir sind keine militärische Macht. Die Europäische Union ist nicht gebaut worden als militärische Macht. Aber darum haben wir auch nicht die Mittel jetzt, uns auf der einen oder anderen Stelle einzubringen und dann zu sagen wir lösen das Problem.

Jörg Jung: 
Ist aber genau das Problem, dass man das in der Europäischen Union über die Jahrzehnte hinweg einfach verschlafen hat? Weil jetzt merken wir, Äthiopien klar, es gibt überall diese ganz schlimmen Kriege. Bürgerkriege gibt es, aber das, was Putin angerichtet hat, wirkt sich nun mal global aus. Ist es denn wirklich so, dass Europa jetzt auch sich selbst anerkennen muss, wir haben über lange Jahrzehnte und viele Jahrzehnte einfach geschlafen und kriegen diesen Wandel, der sich in der ganzen Welt jetzt auch vollzieht, den kriegen wir gar nicht mehr so gewuppt? Und wie müssen wir uns überhaupt positionieren als Europa? Wir wirken schwach.

Jean Asselborn: 
Sie räsonieren da zu kategorisch. Es ist so, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg ja vor allem eines im Auge hatten, dass die Deutschen und die Franzosen sich nicht mehr bekriegen. Und es kamen vier andere Länder dazu. Wir waren also sechs am Anfang, wir sind gewachsen, wir haben Diktaturen mit einbezogen, denken Sie an Portugal, Spanien und auch Griechenland. Und dann haben wir natürlich auch das hinbekommen, was ein großer Erfolg ist nach dem Fall der Mauer. Nicht nur Deutschlands Wiedervereinigung, sondern auch die Wiedervereinigung Europas. Und das ist jetzt 30 Jahre her. Und wenn man die Bilanz zieht, ist das schon wirklich hervorragend. Die Menschen verdienen heute das Doppelte in diesen Ländern, als sie früher verdient haben. Die Armut ist drastisch gefallen. Es sind viele, viele Prozent mehr Studierende, die einen Universitätsabschluss machen usw. usw. - ein Erfolg!

Wissen sie, schlafen oder nicht schlafen, wenn sie vor diese Tatsache gestellt werden, was Putin gemacht hat. Was haben wir gemacht seit 2000, seit Putin an der Macht ist? Versucht wirklich kulturell, diplomatisch, politisch, wirtschaftlich zu schauen, wie können wir uns anlegen, damit dieser Kontinent, den wir mit Russland teilen, dass man den befriedigt und dass man ein normales Leben führt? Erinnern Sie sich an die Rede, die Putin gehalten hat 2001 im Bundestag? Das war eine Rede von einem Reformator. Die Verfassung der Russischen Föderation, da steht das Wort "Demokratie" drin. Das heißt, Putin hat inzwischen alle diese Gegengewichte der Demokratie, die Justiz, die Medien, die Trennung der Gewalten, all das abgeschafft. Die Gegengewichte der Demokratie wurden abgeschafft. Demokratie heißt Macht für die, die vom Wähler bestätigt wurden. Die haben Macht. Und das geht aber nur demokratisch, wenn es auch eine Gegenmacht gibt, eine Kontrolle gibt. Und wenn die Kontrolle verschwunden ist, sind wir im Illiberalismus. Das ist die Vorstufe der Diktatur. Ich glaube nicht,  Ihre Frage, ob wir geschlafen haben, das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass wir als Europäische Union ja uns selbst eine Mission gegeben haben mit Rechtsstaatlichkeit, mit Werten ein Europa bauen, das natürlich als Friedensprojekt Kriege verhindert, aber nicht überall auf der Welt, das ist unmöglich, überall auf der Welt die Kriege zu verhindern. Es sind zehn Kandidaten, die vor unserer Tür stehen. Also kann ja nicht alles so schlecht sein. Zehn Kandidaten wollen Mitglied werden der Europäischen Union. Also ist nicht alles falsch, was wir in der Europäischen Union machen. Sie haben natürlich das Recht, das so zugespitzt zu sagen, aber das ist für mich nicht das Problem.

Jörg Jung: 
Was müssen wir aber als Europa tun? Weil letztendlich ist der Aggressor unser Nachbar. Letztendlich, wenn wir die Ukraine noch in die EU dazunehmen, Polen hat schon, also wir sind im Prinzip direkte Nachbarn mit dem Aggressor. Was kann Europa tun um dem die Stirn zu bieten und zwar stark und entschlossen, daran fehlt es ja meiner Meinung nach.

Jean Asselborn: 
Im Moment müssen wir Schritt für Schritt gehen. Sie haben jetzt vieles zusammen gesagt. Das allererste ist, glaube ich, den Menschen in der Ukraine haben wir eine Motivation gegeben, dass sie auch eines Tages Mitglied werden können, der Europäischen Union und den Schutz der Europäischen Union beanspruchen. Das ist aber ein Prozess, der läuft. Wir sind ja noch nicht am Ende. Natürlich, wir dürfen nicht als Buchhalter herangehen. Das ist eine politische Entscheidung gewesen, diesen Schritt zu tun. Das Zweite ist, was Sie gesagt haben, also was jetzt zu tun ist als Europäische Union, ist ganz einfach, dass erste - wir reden von Ukraine - Russland - das erste, was wir von Anfang an machen, die Schiene der Sanktionen weiterfahren. Damit gewinnen wir den Krieg.

Jörg Jung: 
Aber das ist doch alles noch zu wenig? Muss man konsequenter sein?

Jean Asselborn: 
Wir sind jetzt beim 14. Paket. Man muss weitermachen. Das zweite ist Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen, nämlich: Wenn ein Land angegriffen wird, hat es das Recht, eine Koalition zu bilden, um sich zu verteidigen. Wir sind als Europäische Union mit dieser Koalition. Und was braucht die Ukraine? Sie braucht Munition, um sich zu wehren gegen diese Angriffe von Putin. Das Verhältnis ist jetzt eins zu fünf. Das heißt, wenn die Russen fünf Mal schießen, können die Ukrainer einmal antworten. Also brauchen sie Munition. Das ist verrückt, als Außenminister so was zu sagen, ich weiß das ja alles. Wir machen das aber seit zwei Jahren. Wenn wir es nicht machen, nicht gemacht hätten, gäbe es keine Ukraine mehr und Putin stünde vor Polen und würde bestimmt auch da nicht stehen bleiben. Also darum, die Wahl gibt es eigentlich nicht. Und dann das Zweite mehr im Detail: Hilfe, glaube ich, die Wichtigste ist jetzt Patriotsysteme, damit sie die Luftabwehr über der Ukraine verbessern können, denn sie sehen, dass diese Angriffe weitergehen. Ich hoffe, dass ja in der Schweiz, wo diese Konferenz ist Mitte Juni, dass hier vielleicht ein Punkt herauskommt, wo man nicht den Frieden beschließen kann oder einen Waffenstillstand, aber dass man Ansatzpunkte hat, damit Russen und Ukrainer an einen Tisch kommen. Natürlich darf man auch nicht zulassen, dass Putin die Ukraine über den Tisch zieht. Darum müssen sie in einer Position sein, wenn es zu Verhandlungen kommt, wo sie auch stark sind.

Jörg Jung: 
Das war aber gerade tatsächlich ein Widerspruch in sich. Das ist ja diese Krux, die man mit Putin hat, wenn man versucht, in seinen Kopf zu gucken. Weil auf der anderen Seite hofft man, vielleicht gibt es den Frieden zwischen Ukraine und Russland. Auf der anderen Seite liegt diese Vermutung nahe, was Sie gerade gesagt haben, er würde die Ukraine überrollen, er würde vor Polen stehen und er würde am Ende da auch nicht halt machen vor Polen, sprich NATO. Also man weiß nicht wie er tickt. Olaf Scholz hat vor ein paar Jahren, als es losging, hat er gesagt 100 Milliarden € für die deutsche Bundeswehr, wir müssen hochrüsten, hochrüsten. Genau das ist das, was einem Bauchweh verursacht, aber ist es denn nicht auch dann Aufgabe der Europäischen Union, zu sagen, wir müssen uns militärisch hochrüsten, wir müssen uns besser organisieren, was bislang eben nicht so wirklich passiert ist?

Jean Asselborn: 
Wir müssen effektiv das machen, was ich gesagt habe. Der Ukraine helfen mit militärischen Mitteln auch. Allerdings müssen wir auch bereit sein, dass, wenn ein Fenster sich öffnet, dass man die Diplomatie hereinbringt. Wissen Sie, das Problem ist ja nicht Olaf Scholz, wie dauernd hier in Deutschland das gesagt wird. Das Problem könnte werden, wenn ein Trump gewählt würde und ein Trump würde über die Köpfe der Ukraine über die Köpfe der Europäischen Union sagen, ich mache das, was ich gesagt habe: 24 Stunden, gib mir 24 Stunden, dann habe ich einen Deal mit Putin. Was wäre dieser Deal? Dieser Deal wäre, du hast die Krim, du hast den ganzen Donbas. Die Europäische Union soll schauen, dass sie mit dem Rest irgendwie sieht, was sie da tun kann, um zu stabilisieren. Und fertig. Nichts unterschrieben, Nichts. Und Putin macht das, weil Trump das vorschlägt. Und dann in zwei, drei Jahren, wenn Trump weg ist, fängt es wieder an. Hier müssen wir höllisch aufpassen, wirklich höllisch aufpassen. Und wir müssen den Amerikanern sagen, wir stimmen nicht für Trump oder gegen Trump, Aber wir müssen den Amerikanern sagen, dem amerikanischen Volk sagen, passt auf, was ihr da macht. Das geht nicht nur um Amerika, nicht nur um Europa. Es geht um die Welt. Und wir dürfen keinen amerikanischen Präsidenten noch einmal vier Jahre haben, das ist meine Meinung, ich habe die ersten vier Jahre bitter erlebt, der nicht mehr auf Multilateralismus setzt, also auf internationale Zusammenarbeit, sondern auf Patriotismus. Das ist verrückt und das ist die Gefahr, die blüht. Es ist nicht immer dauernd, wie hier gesagt wird Scholz, Scholz, Scholz. Nein, das ist nicht das Problem. Das Problem ist ein ganz anderes. Und ich glaube auch, dass wir in der Europäischen Union alle wissen, dass die Franzosen und die Deutschen zusammenstehen müssen. Denn das wäre das Schlimmste, was geschehen könnte. Da aber die beiden Länder und alle Länder in der Europäischen Union, vielleicht mit einer Ausnahme, ich weiß nicht, wie Orban denkt, ich weiß jetzt nicht, wie die Slowakei denkt nach dem, was geschehen ist, aber alle anderen stehen doch dazu, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen darf. Und auf dem muss man aufbauen.

Jörg Jung: 
Dann hoffen wir, dass es genauso kommt. Ich bedanke mich. Merci bien, Jean Asselborn und gute Rückreise.

Jean Asselborn: 
Danke sehr.

Autor: Jörg Jung / Mitarbeit: C. Schittelkopp

04. Juni 2024

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