Adiós Weltmacht: Wird Europa das neue Venedig?
Derzeit jagt eine Krise die nächste, während gleichzeitig furchtbare Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten toben. Auf der Welt scheint momentan vieles aus dem Ruder zu laufen. Wenn wir den Blick nach Deutschland richten, beobachten wir einen deutlichen Verlust an Vertrauen. Der Mittelstand macht sich Sorgen um die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit.
Wir sehen den deutschen Mittelstand zusätzlich mit einer bedrohlichen tektonischen Plattenverschiebung, wie wir die aktuellen Machtverschiebungen bezeichnen wollen, konfrontiert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer schien eine unipolare Weltordnung aus den alten Blöcken West und Ost entstanden zu sein. Der demokratische Kapitalismus, gestützt von der Ordnungsmacht USA, wirkte unerschütterlich.
Heute jedoch erleben wir eine multipolare Weltordnung. Die einstige Macht der westlichen Minderheit, die jahrhundertelang die Spielregeln für die Mehrheit der Welt bestimmte, hat deutlich abgenommen. Die BRICS-Staaten, allesamt autokratisch geführt, verfügen mittlerweile über eine größere Wirtschaftskraft als die demokratisch geführten G7-Staaten. So fällt es ebenfalls auf, dass aktuell drei Viertel der Weltbevölkerung in autokratischen Systemen leben.
Steht Europa eine ähnliche Entwicklung bevor, wie Venedig sie durchlebte? Vor 600 Jahren verpasste die einstige Handelsmacht die Verschiebung der Kräfte. Heute fristet die Stadt ihr Dasein als lebendiges Museum, wirtschaftlich abhängig vom Eis- und Souvenirverkauf an Touristen.
Willi Plattes (CEO PlattesGroup) und Ingo Wohlfeil sehen es als unerlässlich an, solche Entwicklungen auf der Grundlage von Fakten zu hinterfragen und zu diskutieren.
Ingo Wohlfeil
Es sind durchaus schwere Zeiten für Optimisten. In Deutschland ist das Vertrauen in die Politik kaum noch vorhanden. Dazu kommt der Krieg in der Ukraine, dessen Ende nicht absehbar ist. Und natürlich der unfassbar brutale Konflikt in Nahost. Und sollte in einem Jahr Donald Trump wiedergewählt werden, steht zu befürchten, dass die Welt vollends aus den Fugen gerät. Sprich: Wir sind dann an einem Punkt angekommen, an dem die bisherige Weltordnung womöglich vor einem totalen Umbruch steht. Viele Residenten auf der Insel leben ja eher nach dem Motto: "Wenn die ganze Welt zusammenfällt, auf Mallorca habe ich ja immer noch meinen sicheren Hafen."
Doch ist das wirklich so? Meine Frage an Willi Plattes: Welche konkreten Auswirkungen haben die dramatischen Entwicklungen in der Welt auf die Unternehmer, auf den Mittelstand und damit auch auf deine Mandanten hier auf der Insel und in Deutschland? Willi!
Willi Plattes
Sei gegrüßt, lieber Ingo. Du hast komplett recht. Wir haben eine dramatische Gemengelage. In Deutschland gibt es eine Vielzahl von Baustellen und daneben müssen gleichzeitig weltweite Krisen beachtet werden. Was Deutschland betrifft, haben wir die Themen Immigration, Energiepreise, Bürokratiemonster, hohe Steuerbelastung, Fachkräftemangel. Aber darauf möchte ich im Augenblick gar nicht weiter eingehen, weil das wird ja tagtäglich in den deutschen Medien rauf und runter diskutiert. Für mich ist erschreckend, dass mehr als jeder vierte Unternehmer und Leistungsträger aus Deutschland von Deutschland weg will. Und da kommen wir dann als international tätige Berater ins Spiel. Aufgrund unserer Marktposition sind wir mit sehr vielen dieser, ich nenne die mal Auswanderungswilligen, sind wir im Gespräch.
Und da stehen ganz andere Themen im Vordergrund. Das sind Themen wie Wie beurteile ich die weltweite Lage? Wo und wann es mit dem nächsten Konflikt zu rechnen apostrophiert? Taiwan. Was ist für meine Familie am besten? In welches Land will oder soll ich auswandern? Und dabei ist eins ganz wichtig Lieber Ingo, unsere Kinder werden ja heute meistens als Weltbürger erzogen. Die werden ja nicht mehr nur als Deutsche erzogen. Die gehen auf internationale Schulen, studieren im Ausland und dort lernen sie andere Menschen kennen, Partner kennen, heiraten oder. Und alleine diese Situation. Wenn die nicht gut geplant ist, kann das zu einem steuerlichen und auch zivilrechtlichen Großschadensereignis führen.
Und dann stellen wir meistens fest in dem Augenblick, wo wir tiefer in die Materie eingreifen, dass wir eine Art tektonische Plattenverschiebung erleben.
Ingo Wohlfeil
Tektonische Plattenverschiebung, as bedeutet normalerweise in der Geografie Naturkatastrophen, Erdbeben, Vulkanausbrüche. Klingt also wahnsinnig dramatisch. Aber was passiert denn da gerade weltpolitisch? Was? Wie lässt sich das Ganze verstehen?
Willi Plattes
Ich glaube, Sigmar Gabriel hat das mal gut ausgedrückt. Er war ja bei uns auf einem Wirtschaftsforum und dort hat er eine Rede gehalten, die dann den Beinamen Venedig-Gerede erhalten hat.
Ingo Wohlfeil
Weil der Cappuccino in Venedig so teuer ist auf dem Markusplatz. Oder was hat das Ganze mit der Weltwirtschaft zu tun?
Willi Plattes
Ja, leider hat Venedig heute nichts mehr mit der Weltwirtschaft zu tun. Die Stadt ist heute, wenn man ganz ehrlich ist, eine Art Museum. Man trifft kaum noch einen Venezianer. Und überspitzt formuliert drehen sich die wirtschaftlichen Aktivitäten darum, Eis oder Souvenirs an Heerscharen von Besuchern zu verkaufen. Man kann sich schwer vorstellen, dass diese Stadt für einige Jahrhunderte das mächtigste Handelszentrum unseres Kontinents war. Ich will jetzt hier keinen historischen Exkurs machen. Ich bin ja nur Steuer- und Rechtsfritze und kein Historiker. Aber Venedig war vor 600 Jahren die wirtschaftliche, politische und militärische Macht im Mittelmeerraum.
Ingo Wohlfeil
Aber das ist 600 Jahre her. Die Frage ist da, was ist schiefgelaufen in Venedig? Haben die sich zu sehr auf ihrem Erfolg ausgeruht?
Willi Plattes
Tja, da sind ein paar Dinge passiert, die man von Seiten der Venezianer nicht richtig eingeschätzt hat. Portugiesen und Spanier suchten einen Seeweg nach Indien und stolperten sozusagen über Amerika. Das war natürlich wirtschaftliche Folgen. Schritt für Schritt verlagerten sich ja die Handelsketten vom Mittelmeer in den Atlantik. Dasselbe passierte dann mit den politischen und militärischen Machtachsen, für die einen beginnende Aufstieg, konkret für Portugal, Spanien und später auch England. Für andere begann Schritt für Schritt der Abstieg. Und das war Venedig. Geblieben ist vom einstigen Reichtum eine mittlerweile morbide Urlauberkulisse zwischen Lagunen.
Ingo Wohlfeil
Also ist Venedig eigentlich nichts anderes als ein Fall fürs Museum?
Willi Plattes
Ja, das ist die zentrale Botschaft, die damals Sigmar Gabriel erwähnt hat. Das war auch von seiner Seite aus eine Art Warnung. Und zwar, dass Europa noch immer meint, es wäre das Zentrum der Welt und dabei nicht merkt, dass die Musik inzwischen längst woanders spielt. Merken wir eigentlich heute in Europa, dass sich nach 600 Jahren zum zweiten Mal die zentralen Wirtschafts- und Handelsachsen und damit ihre politischen und militärischen Machtachsen verschieben?
Ingo Wohlfeil
Damals, also vor 600 Jahren, haben sich die Achsen verschoben, weg vom Mittelmeer, hin in den Atlantik.
Willi Plattes
Genau. Und diese atlantische Achse, die ist bis vor wenigen Jahren eine feste Größe in unserem Wirtschaftsgefüge. Dann kam der Fall der Mauer. Das Ende des Kalten Krieges. Wir durften die größte unblutige Revolution der Weltgeschichte erleben. Wir waren damals alle sicher, als das geschah, dass der demokratische Kapitalismus gesiegt hat und jetzt die gesamte Welt erobert. Russland wurde vom Gegenspieler zum wichtigen Rohstofflieferanten. Das war doch eine schöne Win-Win-Situation. Alles war wunderbar.
Ingo Wohlfeil
Ja, soweit die Theorie. Aber alles in allem war das ja ein Irrtum.
Willi Plattes
Das wissen wir heute, Ingo. Aber als der Kalte Krieg zu Ende war, hatten wir alle eine andere Einschätzung.
Ingo Wohlfeil
Wenn diese Wahrnehmung vor 30 Jahren nicht richtig war, was ist dann passiert, dass Europa heute so alt aussehen lässt?
Willi Plattes
Ja, da haben wir unterschiedliche Dinge, die passiert sind. Ich möchte zuerst auf Amerika zu sprechen kommen. Amerika war zur damaligen Zeit der Weltpolizist, hat sich auch so verstanden. Und wir Deutschen haben auch die Amerikaner als Weltpolizist gesehen. Aber die Amerikaner wollen heute nicht mehr diese Weltpolizisten-Rolle spielen. Ein Populist wie Donald Trump hat mit seinem America First das damals formuliert. Das mit dem Weltpolizist, dass man da raus will, hat er durch America First im Endeffekt ins Rollen gebracht. Die finanziellen Lasten des Weltpolizisten wurden zu groß und die Rede haben wir heute sehr häufig vom überdehnten Imperium macht die Runde und Barack Obama hat den Rückzug eingeleitet. Man wollte nicht mehr Weltpolizist sein.
Ingo Wohlfeil
Und damit ist dann ein Machtvakuum entstanden, das andere füllen können bzw. füllen werden.
Willi Plattes
Also in der Politik wird es nie ein Machtvakuum geben, das wird durch irgendeinen anderen belegt, dieses Machtvakuum. So und im Augenblick haben wir ja eine Vielzahl von Playern. Das erleben wir auf mehreren Kontinenten. Da ist einmal Russland, eine alte revisionistische Macht, die natürlich mit dem Angriff auf die Ukraine, uns hier im Westen kalt erwischt hat. Was das alles für Deutschland bedeutet, das wissen wir nur zu gut. Das hätte sich vor einiger Zeit niemals einer denken können. Das führte zu Energieknappheit. Exorbitant hohe Preise, die im Weltvergleich einfach nicht mehr zu übertreffen sind.
Ingo Wohlfeil
In Deutschland merken wir ja plötzlich, dass die Probleme da draußen handfeste Folgen haben im eigenen Alltag. Und dass man nicht nur eine neue Heizung, sondern vielleicht auch eine neue und funktionierende Bundeswehr braucht.
Willi Plattes
Tja, Europa hat unter dem Schutz des transatlantischen Bündnisses in der Vergangenheit gut leben können und hat sich an sich nicht großartig daran beteiligt. Aber bereits vor dem Krieg in der Ukraine haben die USA ihre Partner und auch Deutschland intensiv darauf gedrängt, die militärischen Kosten mehr zu tragen. Wenn wir ganz ehrlich sind, war doch die gesamte Rollenaufteilung recht scheinheilig, würde ich sagen. Europa war sozusagen für das Gute in der Welt zuständig, während Amerika auf ganz eigene Art und Weise für Ordnung sorgte. Es gibt aber nunmehr zu viele brennende Fragen und da können wir Deutschen uns nicht mehr wegducken.
Ganz aktuell der Nahostkonflikt, der großes diplomatisches Geschick erfordert. Aber das wäre Stoff für einen eigenen Podcast. Und nicht vergessen dürfen wir außerdem den Taiwankonflikt. Der ist ja nicht weg, nur weil wir gerade andere Schlagzeilen haben.
Ingo Wohlfeil
Mit Taiwan sind wir auch gleichzeitig bei China und mir ist tatsächlich nicht ganz klar, welche Rolle China in Zukunft in der Weltwirtschaft spielen wird.
Willi Plattes
Tja, China, das ist ein gewaltiges Thema. Das Land ist mittlerweile für 1/5 der Weltwirtschaft zuständig und wächst zweimal so schnell wie die USA. Das muss man sich erst mal zu Gemüte führen. Und würde die Wirtschaft Chinas nicht mehr wachsen, wäre das ein Problem für alle Handelspartner. Ingo, frag mal jemanden aus der deutschen Autoindustrie, wie groß die Abhängigkeit ist. Das ist eine ganz enge Symbiose und das gilt im Übrigen auch für eine Vielzahl von anderen Branchen.
Ingo Wohlfeil
Nicht vergessen dürfen wir dabei auch die BRICS-Staaten, die ja derzeit in aller Munde sind. Das werden neben China, Russland, Brasilien, Indien, Südafrika und jetzt sollen noch mehrere Kandidaten beitreten.
Willi Plattes
Tja, dieser, ich sage mal, neue Staatenbund, der bekommt immer mehr an wirtschaftlichen Gewicht und er strebt auch immer mehr politische Macht an, da haben wir ein Gegengewicht zu den großen demokratischen G7-Staaten und viele nehmen das im Augenblick noch nicht ernst, weder wirtschaftlich noch politisch. Aber wie sehr sich die Dinge geändert haben, sehen wir ja jetzt im Krieg in der Ukraine. Wir schauen auf China, das mit Russland nicht brechen will. Aber global gesehen ist China ja mit dieser Haltung in bester Gesellschaft. Wenn Europa und die USA Russland verurteilen, dann macht das heute in der Welt sehr viel weniger Eindruck, als das vielleicht früher der Fall gewesen ist.
Und dieses Gegengewicht zu den G7 wird immer stärker. Es sind mittlerweile weitere Länder den BRICS-Staaten beigetreten, aufgenommen wurden in die Staatengemeinschaft wurden. Jetzt muss ich leider ablesen. In Tunesien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Und da werden im Riesentempo und ohne Berührungsängste neue Tatsachen geschaffen.
Ingo Wohlfeil
Lauter lupenreine Demokraten, die sich da versammelt haben. Aber lass uns mal zum Ausgangspunkt zurückkehren, nämlich zu der Frage, was das für unseren Mittelstand eigentlich bedeutet. Man könnte ja denken okay, die Weltwirtschaft verändert sich. Orientieren wir uns halt neu, suchen uns neue Partner, neue Absatzmärkte. Hat früher auch so funktioniert.
Willi Plattes
Ja, da hast du komplett recht. Das hat immer funktioniert. Aber mittlerweile ändern sich ja nicht nur die Spielpartner, sondern es ändern sich auch die Spielregeln. Bislang richteten sich diese Regeln zumindest mehr oder weniger nach dem System der sozialen Marktwirtschaft, auf die wir ja alle zu Recht sehr stolz sind. Aber viele der künftigen Partner schätzen dieses Modell nicht mehr. Spielen wir überhaupt noch alle nach den gleichen Spielregeln? Ich nenne mal ein paar Beispiele. Da werden die eigenen Märkte durch Handelshemmnisse abgeschirmt, da gibt es hohe staatliche, direkte oder indirekte Subventionen für die Wirtschaft in Deutschland. Da werden auch schon mal Markenrechte missachtet. Hier ein Joint Venture Zwang, dort eine zunehmende Kontrolle durch den staatlichen Apparat. Also Marktwirtschaft ist etwas anderes.
Ingo Wohlfeil
Es ist ja schon klar, dass nicht alle Länder vorbildliche demokratische Standards haben, wie jetzt zum Beispiel Norwegen oder Schweden. Aber deswegen ist man ja nicht automatisch auf dem gleichen Level wie Nordkorea, Jemen oder sagen wir mal Kongo.
Willi Plattes
Nein, natürlich nicht. Es gibt aber eine deutliche Verschiebung weltweit in Richtung autokratische Systeme und dazu mal ein paar statistische Daten. Nur noch etwas mehr als ein Viertel der Menschen. Ein Viertel, lieber Ingo, der Menschen weltweit lebt in einer Demokratie, die diesen Namen auch verdient und genau zuhören. Drei Viertel der Menschen leben in autokratischen Systemen. Das ist für mich persönlich eine erschreckende Entwicklung. Es hat natürlich auch was damit zu tun, dass Indien als bevölkerungsreiches Land herabgestuft wurde und jetzt offiziell nicht mehr als Demokratie zählt, sondern als Autokratie. Und ein sehr wichtiger Aspekt wird meines Erachtens in den Diskussionen vernachlässigt. Wir dachten ja immer, dass die liberalen Demokratien das Monopol dafür hätten, wirtschaftlichen und sozialen Erfolg zu produzieren. Heute wissen wir, dass auch autokratische Systeme Wirtschaftswachstum schaffen können.
Ingo Wohlfeil
Und damit sind wir wieder bei China.
Willi Plattes
Genau. Genau. Aber nicht nur. China braucht keine freien Wahlen, um Wohlstand zu schaffen. Und China weiß diesen Wohlstand auch international strategisch klug zu nutzen. Wir erleben, wie China zum Beispiel in Afrika an Boden gewinnt, kräftig investiert, wirtschaftliche Abhängigkeiten schafft und bei all dem keine unbequemen Fragen zu den Menschenrechten oder zum Klimaschutz stellt. Das ist an sich eine Steilvorlage für die herrschenden Autokraten. Ich formuliere es mal etwas provokativer: Wo steht eigentlich geschrieben, dass unsere liberalen Demokratien effizienter, produktiver, sozial sicherer und politisch stabiler funktionieren als autoritär geführte Staaten? Die bürokratischen Monster, wie wir sie zum Beispiel in Deutschland haben, mögen rechtsstaatlich absolut vorbildlich sein. Ihre Effizienz und die daraus folgende Produktivität stehen meines Erachtens auf einem ganz anderen Blatt.
Ingo Wohlfeil
Na, dann spiele ich jetzt mal den Advocatus Diaboli. Also müssen wir nicht eigentlich auch beruhigt sein, wenn eben nicht so einfach eine Fabrik ins Naturschutzgebiet gebaut werden kann, wie eben in diesen autokratischen Staaten, sondern hier bei uns gibt es ja ein Verfahren, bei dem geprüft wird und Eingaben gemacht werden müssen.
Willi Plattes
Komplett richtig. Aber Bürokratie darf doch kein Selbstzweck sein. Wenn Genehmigungsverfahren statt einem halben Jahr mal schnell fünf oder noch mehr Jahre benötigen. Damit ist doch keinem gedient. Nein, außer den Mitbewerbern in anderen Ländern, die wirtschaftlich dann an uns vorbeiziehen, während wir noch am Überprüfen sind. Darf ich überhaupt irgendetwas bauen? Die Folgen sind brandgefährlich, nicht nur wirtschaftlich. Wir sprechen da nicht nur über Luxusprobleme von Wohlstandsgesellschaften, sondern von einem elementaren Wettbewerbsnachteil für unsere Demokratie und damit auch für das deutsche Wohlfahrt- und Sozialsystem.
Ingo Wohlfeil
Und diese Dinge werden ja seit langem, seit Jahrzehnten diskutiert und kritisiert. Aber damit sich Dinge wirklich ändern, muss ja zuvor meist der Leidensdruck erst hoch genug sein, damit man vor Augen geführt bekommt, dass es so nicht weitergehen kann. Sind wir mittlerweile in so einer Situation? So kann es nicht weitergehen.
Willi Plattes
Es gibt meiner Meinung nach noch zu viele, die in einer Art Blase leben und glauben, dass das, was da draußen passiert, was wir eben geschildert haben, nichts mit ihnen zu tun hat. Und anscheinend nicht begreifen, dass mit diesen Veränderungen auch unser gesamtes deutsche Geschäftsmodell auf dem Spiel steht. Vielleicht ist da der Ukraine- und Israel-Krieg ein Realitätsschock. Auch die Deutschen müssen in ganz, ganz vielen Bereichen kräftige Reformen anpacken und umdenken. Wir müssen lernen, dass mit bloßem Idealismus keine Weltpolitik betreiben lässt. Viele, denen früher alles Militärische suspekt war, sind heute froh, dass Deutschland über eine ordentliche Rüstungsindustrie verfügt. Ganz viele haben meines Erachtens die Zeichen der Zeit erkannt und dazu gehört der Mittelstand. Die überlegen intensiv, wie und wo sie ihre Firma in die Zukunft führen sollen und können.
Ingo Wohlfeil
Und da wären wir ja wieder bei deinen Mandanten. Was antwortest du denn denen, wenn sie dir so ihre Sorgen beschreiben?
Willi Plattes
Ja, wir wissen natürlich wirklich nicht, wie das letztendlich alles weitergeht und wie die neue Weltordnung aussehen wird. Aber ich halte es für wichtig, für sehr wichtig, gemeinsam über diese Fragen, über die wir ja jetzt auch diskutieren, lieber Ingo, nachzudenken und unsere Schlussfolgerungen in Handlungen zu wandeln. Das ist auch ein Vorteil hier auf der Insel. Hier kommen viele Menschen zusammen und das sind Menschen, die Erfahrung haben, die Einblick und Erfahrungen in die unterschiedlichsten Bereiche haben. Die haben interkulturelle Kompetenzen, die sind offen für neue Entwicklungen. Ganz kurz als Beispiel: Meine fünf Kinder haben hier auf der Insel eine internationale Schule besucht - mit 43 Nationalitäten. Da gab es nicht ansatzweise Spuren von Rassismus.
Ich sehe Mallorca als eine Art Brain Drehkreuz, also eine Denkfabrik für Unternehmer und schlaue Köpfe, die Anteil nehmen an dem, was in Deutschland, Europa und der Welt passiert. Also auch über das, was wir heute diskutieren.
Ingo Wohlfeil
Aber mit so einer Debatte kann man ja nicht von heute auf morgen etwas verändern. Da wird ja kein Unternehmer sagen okay, schauen wir mal, was in der Zukunft passiert und die Probleme gelöst werden. Und bis dahin gibt es mein Unternehmen hoffentlich noch.
Willi Plattes
Ja, das eine schließt das andere doch nicht aus. Es braucht pragmatische Lösungen für heute und strategische Überlegungen für morgen. Jeder erfolgreiche Unternehmer verfährt so. In Deutschland ist das unternehmerische Leben gerade so schwer oder teilweise sogar unmöglich. Dann schaue ich, dass ich mich international aufstelle, und zwar so, dass ich flexibel bleibe. Man sollte eben nicht alle Eier in ein Nest legen. Ingo, machen wir doch mal ein Beispiel. Wenn du mit deinem Hauselektriker zu Hause nicht zufrieden bist, der ist unzuverlässig, der macht schlechte Arbeit. Dann suchst du dir einen anderen Elektriker. In der heutigen globalisierten Welt kann ich als Mittelständler genau so auch meinen politischen Dienstleister wechseln, also in ein anderes Land gehen.
So ein Wechsel ist natürlich für einen Mittelständler bedeutend schwieriger oder ungleich schwieriger als bei dir, wenn du dir einen neuen Elektriker suchst. Aber vom Grundsatz her ist das Thema das Gleiche. Wir müssen einfach in Europa den Mut haben, neue Strategien zu entwickeln, um nicht zwischen diese Mühlsteine zu geraten. Die Mühlsteine Amerika, China oder der indopazifische Raum. Sigmar Gabriel hat das wunderbar angesprochen. Er sagte, wir brauchen einen neuen Realismus, mit dem wir auf die Welt schauen und von einer. Er benutzt das Wort Schubumkehr, damit Europa nicht wie Venedig endet.
Ingo Wohlfeil
Der Appell zu einem geeinten und gestärkten Europa ist ja eigentlich alles andere als neu. Und momentan erleben wir ja beständig Rückschläge in allen Bereichen. Beispiel Ungarn. Beispiel Geert Wilders mit der Wahl in Holland.
Willi Plattes
Genau. Ja, aber gerade deswegen, Ingo, müssen wir uns klar machen, was auf dem Spiel steht. Also jetzt noch mal auf die Welt geguckt aus chinesischer Sicht. Wenn wir nicht aufpassen, könnte es passieren, dass wir dann nur wirklich noch als Zipfel am anderen Ende der eurasischen Landmasse wahrgenommen werden.
Ingo Wohlfeil
Wenn wir in Europa nicht sagen, es mal so genügend kritische Masse für einen Global Player haben, wo sie es tun, oder die möglichen Partner von Europa in der Welt, mal abgesehen von den USA.
Willi Plattes
Tja, im Moment versucht ja jeder irgendwo bilaterale Deals hinzukriegen und möglichst viel für das eigene Land rauszuholen. Aber wenn wir unser Ziel so definieren, dass wir freie und offene Märkte mit gleichen Wettbewerbsbedingungen schaffen wollen, dann sollten wir versuchen, mit Ländern wie Japan, Südkorea, Australien oder Neuseeland, die ja anscheinend die gleichen Interessen in Bezug auf China haben, mit denen näher in Kontakt zu kommen, um da ein Gegengewicht aufzubauen.
Ingo Wohlfeil
Wie würdest du diese Interessen umschreiben?
Willi Plattes
Ich will das jetzt moralisch nicht zu hoch aufhängen, aber die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft haben ja national und auch global ihre Berechtigung. Es geht ja nicht nur darum, dass freier Handel in einer datengetriebenen, globalisierten Welt, so wie wir sie heute haben. Ich sage mal, sozial abgefedert werden. Der Handel muss auch fair sein und sozial verträglich und gerecht. Es darf nicht dauerhafte Gewinner oder dauerhafte Verlierer geben. Die Frage ist, sollen wir einfach zusehen, wie andere die neue Weltordnung entwickeln? Oder wollen wir uns selber neu aufstellen und zusammen mit strategischen Bündnispartnern unsere Interessen vertreten? Wenn Europa sein Schicksal in die eigene Hand nehmen will, brauchen wir nicht nur eine Neuausrichtung ökonomisch, militärisch oder geopolitisch.
Willi Plattes
Es ist meiner Meinung nach auch ein mentaler Wandel vonnöten. Wir müssen einfach NEU DENKEN und NEU HANDELN. Also mit Sabine Christiansen veranstalten wir ja auf Mallorca jedes Jahr ein erfolgreiches Wirtschaftsforum NEU DENKEN. Und bei diesem NEU DENKEN werden diese Themen, unter anderem diese Themen, immer hinreichend diskutiert und Handlungsalternativen besprochen.
Ingo Wohlfeil
Angesichts der ganzen Herausforderungen, die du da gerade geschildert hast, dürfte der Stoff für so ein Forum ja auch nicht ausgehen. Was kannst du denn schon über die Ausgabe 2024 NEU DENKEN sagen?
Willi Plattes
Ja, das Programm gestalten wir wie jedes Jahr immer aktuell mit den brennenden Themen, die durch die internationale Politik, die Wirtschaft und den Handlungsrahmen von Unternehmen und den Menschen bestimmt werden. Das ist sehr volatil. Fest steht immer auch, um welches Datum also vom 23. bis 25. Mai nächstes Jahr im Castillo Hotel Son Vida in Palma.
Ingo Wohlfeil
Oh, eine sehr schöne Location. Also schon mal bitte im Kalender eintragen! Und kann ich mich auch schon anmelden?
Willi Plattes
Ja, das kannst du auf unserer Website ja und wir diskutieren genauso wie in den Vorjahren mit wirklich herausragenden Persönlichkeiten. Und das Schöne ist, die nehmen kein Blatt vor den Mund, weil wir einfach Chatham House Ruhe haben. Also das, was da rausgeht an die Presse, das wird vorher von denen, die es gesagt haben, abgesegnet. Es werden wie immer hochrangige und sehr offen geführte Gespräche natürlich unter der professionellen Leitung von Sabine Christiansen geführt. Und die Gäste? Wir haben limitiert. Für 200 besteht die Möglichkeit, mit den Teilnehmern und auch mit den Rednern direkt ins Gespräch zu kommen.
Ingo Wohlfeil
Inhaltlich dürfte das Wirtschaftsforum an das anknüpfen, über das wir jetzt gerade gesprochen haben, oder?
Willi Plattes
Ja, ganz bestimmt. Die großen Linien, also die Verlagerung der Handelsachsen vom Atlantik in den indopazifischen Raum, das wird natürlich ein Szenario sein, in dem sich die Debatten bewegen, wenn man sich die politischen Analysen zu Gemüte führt. Dann gibt es eine ganz klare Entwicklung, unabhängig davon, wie die Kriege in der Ukraine und in Israel ausgehen. Die globale Herausforderung der nächsten Jahrzehnte ist nicht Russland, sondern China. Die Analysten sehen Russland auf dem Weg zu einem Juniorpartner der kommenden Weltmacht. Und das dürfte China sein. Die russischen Rohstoffe werden nicht mehr nach Europa geliefert, sondern zu weit günstigeren Preisen nach China und Indien.
Und während man in Deutschland noch diskutiert, wie eine wertebasierte Außenpolitik auszusehen hat, erzeugt China handfeste Abhängigkeiten durch Investitionen, durch Kredite. Ich hatte ja das Beispiel Afrika schon genannt. An diesen Konturen wird etwas sichtbar, was die neue Weltordnung sein könnte. China bastelt an einer gigantischen Infrastruktur und garantiert auf diese Weise sichere neue Handelsrouten, die dann von den einzelnen Ländern mit politischer Loyalität bezahlt werden. Ich möchte da einfach nur das zusammenfassen unter dem Wort die Seidenstraße.
Ingo Wohlfeil
So ganz reibungslos funktioniert das aber auch nicht. Die italienische Regierung hat ja gerade der Seidenstraße eine Absage erteilt und damit, mit Italien, sind wir wieder bei Venedig. Damals ging die Seidenstraße dort ja los und führte bis nach China.
Willi Plattes
Ja, nur damals war es nur das Mittelmeer. Heute haben wir Atlantik und indopazifischen Raum. Und das ist ja kein sentimentales Planspiel mehr, sondern das sind von den Chinesen strategische Überlegungen, wie man im zukünftigen geopolitischen Wettbewerb in der Wirtschaft bestehen kann. Ja, jetzt mal unabhängig von Italien. Es entstehen neue Containerterminals, es werden Straßen und Eisenbahnlinien ausgebaut, Logistikzentren entstehen oder die gigantischen neuen Gaspipelines von von Russland nach China. Der indopazifische Raum entwickelt sich zum Zentrum und Drehscheibe des Welthandels. Das Ergebnis werden intensivere wirtschaftliche Verflechtungen sein zwischen China einerseits und dem asiatischen, afrikanischen und europäischen Raum andererseits. Und innerhalb Europas zeichnet sich ab, dass sich die asiatisch-europäischen Transportwege verlagern, und zwar von Nordwesteuropa nach Südeuropa.
Ingo Wohlfeil
Wovon dann Venedig auch wieder profitiert.
Willi Plattes
Ja, na ja, also Venedig hat ja derzeit mit den Kreuzfahrtschiffen genug zu kämpfen. Ich weiß nicht, ob man da sehr froh ist, wenn man dann auch noch Containerschiffe zusätzlich sieht. Aber kommen wir doch zum Ausgangspunkt zurück. All diese Themen beschäftigen den deutschen Mittelstand. Auf Mallorca beschäftigen wir uns damit sehr intensiv in der Diskussion. Ich sehe diese diskutierten Veränderungen nicht nur als Problem, sondern auch als Chance und Möglichkeit. Für mich ist Jammern keine wirtschaftliche Aktivität. Wir werden hier auf der schönsten Insel der Welt weiter inhaltstief und lösungsorientiert diskutieren. Und dabei entstehen konkrete Handlungsempfehlungen.
Ingo Wohlfeil
Darauf freuen wir uns im Mai auf Mallorca: NEU DENKEN. Vielen Dank für das Gespräch.
Willi Plattes
Ebenfalls Danke