Jürgen Stock bei NEU DENKEN: "Organisierte Kriminalität ist ein High-Profit-Low-Risk-Geschäftsmodell"

Viele hochkarätige Referenten waren in den vergangenen Tagen bei unserem Wirtschaftsforum NEU DENKEN zu Gast, einer von Ihnen: Jürgen Stock, ehemaliger Generalsekretär von Interpol.
Podcast-Producerin Timothea Imionidou hat mit ihm gesprochen, herausgekommen ist ein vielseitiges und informatives Interview, das zentrale Fragen zur weltweiten Sicherheitslage beantwortet: Wie gefährlich ist organisierte Kriminalität wirklich? Welche Entwicklungen zeichnen sich weltweit ab – und was bedeutet das für Europa und Deutschland?
Mit seiner einzigartigen internationalen Perspektive erklärt Jürgen Stock die Mechanismen moderner Kriminalitätsnetzwerke und zeigt auf, warum klassische Kategorien nicht mehr ausreichen, um die Bedrohungslage zu verstehen.
Stock spricht offen über Schwächen in der internationalen Datenerfassung, erklärt die zwei Gesichter organisierter Kriminalität – von gewalttätigen Banden bis hin zu diskreten, wirtschaftlich operierenden Netzwerken – und beleuchtet die zunehmende Professionalisierung durch digitale Technologien. Auch der „Kokain-Tsunami“ in Europa, die Fentanyl-Krise in den USA und der wachsende Einfluss krimineller Strukturen auf legale Märkte werden analysiert.
Besonderes Augenmerk liegt auf der Rolle von Interpol, der Notwendigkeit internationaler Kooperation und der Frage, inwiefern Künstliche Intelligenz sowohl Risiko als auch als Hoffnungsträger ist. Stock gibt einen Ausblick, der Mut macht: Durch globale Zusammenarbeit, moderne Technologie und engagierte Sicherheitsbehörden weltweit sei ein wirksames Zurückdrängen der Kriminalität möglich – vorausgesetzt, das Thema rückt stärker ins öffentliche Bewusstsein.
Das Gespräch, das wir im Vorfeld der Konferenz aufgezeichnet haben, soll informieren, aufrütteln und den Blick für die realen Herausforderungen einer global vernetzten Welt schärfen.
Timothea Imionidou
Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge unseres Podcasts. Mein Name ist Timothea Imionidou, ich bin die Podcast-Producerin der PlattesGroup. Heute sprechen wir mit einem Mann, der wie kaum ein anderer auf die weltweite Sicherheitslage blicken kann: Jürgen Stock, langjähriger Generalsekretär von Interpol, einer Organisation mit 196 Mitgliedsstaaten.
Unser Thema heute: Die weltweite Bedrohung durch organisierte Kriminalität, ihre Dynamiken, ihre Strategien und ihre wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Folgen.
Hallo Herr Stock, herzlich willkommen und schön, dass Sie sich heute Zeit für uns genommen haben.
Jürgen Stock
Guten Morgen! Danke für die Einladung.
Timothea Imionidou
Lassen Sie uns zuerst aus der Vogelperspektive auf die Weltlage blicken. Wenn Sie heute eine weltweite Karte der Kriminalität zeichnen müssen: Welche groben globalen Tendenzen beobachten Sie?
Jürgen Stock
Ganz generell kann man sagen, dass sich die Globalisierung der organisierten Kriminalität ebenso vollzogen hat wie die der restlichen Welt. Trotz geopolitischer Rückbesinnung und nationaler Tendenzen operieren kriminelle Gruppierungen heute globaler denn je. Besonders im Bereich Cyberkriminalität ist das offensichtlich, da dieser Bereich per se grenzenlos ist. Dadurch wird es für national organisierte Sicherheitsbehörden deutlich schwieriger.
Timothea Imionidou
Wo hat die transnationale organisierte Kriminalität besonders zugenommen? Gibt es Regionen mit Erfolgen in der Bekämpfung? Oder Regionen, in denen mit einer weiteren Zunahme zu rechnen ist?
Jürgen Stock
Das Hauptproblem ist der Mangel an vergleichbaren Daten. Es gibt weltweit sehr unterschiedliche Definitionen von organisierter Kriminalität, Terrorismus oder Mord. Viele Interpol-Mitgliedstaaten verfügen nicht über eine systematische Erfassung wie in Deutschland. Die Vergleiche sind deshalb eher anekdotisch. Wir sehen zum Beispiel in Südamerika eine Zunahme des Drogenproblems, etwa in Ecuador. Auch Schweden hat große Probleme mit Bandenkriminalität. Weltweit nimmt die Bedrohung durch organisierte Kriminalität zu. Dabei unterscheide ich zwei Typen: Einerseits gewalttätige Gruppierungen, die auch politische Entscheidungsträger bedrohen, und andererseits solche, die unter dem Radar bleiben, legal wirtschaften und schwer zu fassen sind. Letzteres macht die Bekämpfung besonders schwierig.
Timothea Imionidou
Wie wird denn in anderen Ländern Kriminalität überhaupt erfasst, wenn es keine Statistik wie in Deutschland gibt?
Jürgen Stock
Selbst die deutsche Kriminalstatistik hat Schwächen. Besonders im Bereich der organisierten Kriminalität gibt es ein hohes Dunkelfeld. Viele Opfer zeigen aus Angst oder anderen Gründen nichts an. Das erklärt, warum die Anzahl der Ermittlungsverfahren seit Jahren relativ konstant bleibt. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Behörden wie Polizei, Zoll oder Steuerfahndung involviert sind. Auch der Fall Wirecard zeigt, dass wirtschaftskriminelle Delikte mit organisierter Kriminalität verwandt sein können.
Ein besonders krasses Beispiel ist Cyberkriminalität: Das Bundeskriminalamt geht davon aus, dass rund 90 Prozent der Fälle im Dunkelfeld bleiben. Viele Länder erheben gar keine systematischen Daten, was fundierte Vergleiche nahezu unmöglich macht. Interpol arbeitet daher qualitativ mit globalen Informationen.
Timothea Imionidou
Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt noch sichere Häfen oder ist das eine Illusion?
Jürgen Stock
Ein gutes Beispiel ist Italien. Dort hat man durch enge Kooperation der Sicherheitsbehörden, intensive Geldwäschebekämpfung und Zusammenarbeit mit Interpol beachtliche Erfolge erzielt. Das Aycan-Projekt von Interpol und Italien brachte wichtige Ermittlungserfolge gegen die 'Ndrangheta. Mehr als hundert Top-Kriminelle konnten festgenommen werden. Interpol stellte dabei internationale Verbindungen her und warnte Länder, die noch nicht wussten, dass sie betroffen sind.
Timothea Imionidou
Warum ist die organisierte Kriminalität weltweit so stark geworden?
Jürgen Stock
Es ist ein "High-Profit, Low-Risk"-Geschäftsmodell. Die Gewinne sind astronomisch: Drogen-, Menschen-, Waffen- und Abfallhandel, Fischerei, Rohstoffe, Wirtschaftskriminalität. In Europa werden jährlich rund zwei Billionen US-Dollar durch kriminelle Geschäfte gewaschen. Weniger als ein Prozent davon wird sichergestellt. Das zeigt die Dimension.
Timothea Imionidou
Welche Formen der organisierten Kriminalität zählen zur "White Collar Crime"?
Jürgen Stock
Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Ausnutzung von Gesetzeslücken. Auch sogenannte "legale" Finanzinstrumente werden missbraucht. Hier sind oft wirtschaftlich etablierte Personen involviert. Das macht die Bekämpfung komplex und erfordert viele Ressourcen. Internationale Zusammenarbeit ist hier unerlässlich.
Timothea Imionidou
Gibt es geografische Schwerpunkte bestimmter Gruppen?
Jürgen Stock
Ja. Es gibt klassische Gruppen mit territorialem Ursprung: italienische Mafia (Cosa Nostra, 'Ndrangheta, Camorra), Balkankartelle, russische Gruppen (Thieves in Law), nigerianische Syndikate, Sinaloa-Kartell, Los Lobos. Früher konkurrierten diese Gruppen, heute kooperieren sie zunehmend. Dann gibt es digitale OKR: im Darknet, anonym, hochspezialisiert, mit Bewertungen und internationalen Kooperationen. Oft verbinden sich klassische und digitale Strukturen.
Timothea Imionidou
Interpol hat 196 Mitgliedstaaten. Wie sieht es mit den Ressourcen der Polizeibehörden weltweit aus?
Jürgen Stock
Einige Länder sind gut ausgestattet, aber rund 70 bis 80 Prozent haben kaum Ressourcen oder technisches Know-how. Interpol hilft mit Basisausstattung, Schulungen und Vernetzung. Lücken in der internationalen Strafverfolgung werden von Kriminellen gezielt ausgenutzt.
Timothea Imionidou
Wie steht Europa im internationalen Vergleich da?
Jürgen Stock
Europa ist vergleichsweise gut aufgestellt. Es gibt einmalige Formen der Zusammenarbeit wie Europol, nationale Zentralstellen wie das BKA und intensive Koordination. In Afrika, Asien oder Südamerika existieren erste Ansätze wie Afripol oder Ameripol, aber sie sind noch lange nicht auf europäischem Niveau. In Deutschland ist die Lage derzeit nicht so angespannt wie in Schweden, Belgien oder den Niederlanden. Aber auch hier gibt es Korruptionsfälle, Ermittlungen gegen Beamte und den dringenden Bedarf, Geldwäsche effizienter zu bekämpfen. Das steht auch im Koalitionsvertrag.
Timothea Imionidou
Wie nutzt organisierte Kriminalität geopolitische Konflikte?
Jürgen Stock
Krisen wie Kriege, Klimawandel, Wasser- und Energieknappheit werden systematisch ausgenutzt. Bei Instabilität floriert Schmuggel (Waffen, Tiere, Menschen). Nach den Balkankriegen war der Waffenhandel ein riesiges Thema, und auch in der Ukraine wird das nach Kriegsende zu erwarten sein. Gruppierungen diversifizieren ihre Geschäfte. Drogenkartelle handeln heute auch mit gestohlenen Waren, schleusen Migranten und betreiben Umweltkriminalität. Es geht um Polykriminalität mit professionellem Management.
Timothea Imionidou
Wie lässt sich der sogenannte "Kokaintsunami" stoppen?
Jürgen Stock
Trotz Rekordsicherstellungen ist der Markt weiterhin gesättigt. Die Kartelle sind flexibel, passen sich an, verlängern Schmuggelrouten. Verluste sind eingepreist. Wichtig ist der internationale Informationsaustausch. Interpol ist die einzige Plattform mit weltweiter Reichweite. Globale Probleme erfordern globale Antworten. Nur gemeinsam kann man diese Netzwerke aufbrechen.
Timothea Imionidou
Ein drängendes Thema in den USA ist Fentanyl. Droht in Europa eine ähnliche Krise?
Jürgen Stock
Fentanyl ist in Europa angekommen, wird aber bisher nur vereinzelt gemischt oder konsumiert. Die US-Krise war unter anderem durch eine andere Verschreibungspraxis begünstigt. Dennoch ist Monitoring essenziell. Ein Rückgang des Heroinangebots aus Afghanistan könnte die Gefahr erhöhen. Die Todeszahlen in Deutschland steigen. Die Bedrohung muss ernst genommen werden.
Timothea Imionidou
Was macht Ihnen Hoffnung im Kampf gegen die organisierte Kriminalität?
Jürgen Stock
Künstliche Intelligenz. Sie wird bereits von Kriminellen genutzt, kann aber auch den Ermittlern helfen, riesige Datenmengen effizient auszuwerten. Besonders bei Themen wie Kindesmissbrauch ist das essenziell. Zudem erlebe ich weltweit engagierte Polizisten, die mit wenigen Mitteln großes leisten. Dieses Engagement gibt mir Hoffnung, dass wir auch weiterhin ein hohes Maß an Sicherheit schaffen können.
Timothea Imionidou
Vielen Dank, Herr Stock, für diese eindrucksvollen Einblicke. Und auch Ihnen, liebe Zuhörer und Zuschauer, vielen Dank fürs Dabeisein. Bis zum nächsten Mal.
Autorin: Timothea Imionidou/ Mitarbeit: Frank Feldmeier
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