Susanne Wiegand: "Die fragmentierte Rüstungsindustrie in Europa muss dringend zusammenwachsen"
02. Juni 2025
Mit der „Operation Spinnennetz“ gelang der Ukraine am 1. Juni ein spektakulärer Militärschlag. Der von langer Hand vorbereitete Drohnenangriff traf gleich vier strategisch wichtige Luftwaffenstützpunkte Russlands und schaltete mehrere Langstreckenbomber aus. Wie kriegsentscheidend werden Drohnen in Zukunft sein? Was bedeutet das für die Sicherheitspolitik Europas? Und wie sollte sich die Rüstungsindustrie aufstellen?
Antworten auf derlei Fragen gibt Susanne Wiegand. Die ehemalige Vorstandschefin des Rüstungszulieferers Renk zählt zu den Referenten beim diesjährigen Wirtschaftsforum NEU DENKEN, das vom 12. bis 14. Juni in seine achte Runde geht. Auf dem Programm steht in Kooperation mit der Münchner Sicherheitskonferenz auch die europäische Sicherheitspolitik. Wiegand gehört seit März dem Advisory Board des vor zehn Jahren gegründeten Drohnenherstellers Quantum Systems an.
Ukraine-Krieg, Nahost-Krieg, der Kurs der Trump-Regierung – haben Sie den Eindruck, dass sich die Menschen in Europa inzwischen der neuen sicherheitspolitischen Lage bewusst sind?
Ich glaube, die meisten Menschen in Europa haben verstanden, dass Sicherheit nicht per se gegeben ist auf unserem Kontinent, auch wenn wir alle nach 30 Jahren tiefem Frieden nicht mit dieser neuen Lage gerechnet haben. Die Menschen haben verstanden, dass man für die Verteidigung der Demokratie etwas tun muss sowie der Erhalt von Frieden und Freiheit Geld kostet, dass man dafür Streitkräfte braucht und dass man sie gut ausrüsten muss. Und damit ist natürlich auch die Rüstungsindustrie salonfähig geworden, wie ich es formuliere. In den ESG-Nachhaltigkeitskriterien war sie sogar auf eine Stufe mit Alkohol, Glücksspiel oder etwa Prostitution gestellt worden. Das hat sich massiv geändert. Das sehen wir auch daran, dass wir ein durchaus attraktiver Arbeitgeber geworden sind.
Was hat sich im Umgang zwischen Rüstungsindustrie und Politik verändert?
Die Gesprächskanäle haben sich intensiviert. Die Zusammenarbeit wird enger, auch wenn sie noch nicht institutionalisiert ist wie in anderen Ländern. Soweit sind wir in Deutschland noch nicht, vielleicht müssen wir da auch nicht hin. Aber ein intensiver Dialog in Zeiten, in denen man sich gegenseitig braucht, macht schon Sinn.
Was erwarten Sie sich vom Regierungswechsel in Deutschland?
Ein fundamental wichtiger Schritt ist natürlich der neue Finanzrahmen, der ja schon vor dem Regierungswechsel beschlossen worden ist, unter dem Mitwirken aller Beteiligten. Dieser große Hemmschuh – wir haben kein Geld oder nicht genug Geld – ist damit passé. Im Handeln der Regierung habe ich aber bislang noch keine großen Veränderungen wahrgenommen.
Sie haben die Wichtigkeit betont, dass in der Verteidigungspolitik auch Industrie- und militärische Kompetenz verankert sind. Sehen Sie das gegeben?
Das ist noch schwer zu beurteilen. Ich habe gesagt: Wenn ich Verteidigungsministerin wäre, dann würde ich mir ein kleines Expertengremium aufbauen, mit wirklich einsatzerfahrenen Militärs und Leuten, die zutiefst verstehen, wie Industrie funktioniert. Denn wir müssen jetzt skalieren, strukturell andere Wege gehen – also nicht nur ein bisschen mehr machen oder ein bisschen schneller. Das wird nicht reichen.
Mit “Skalieren” und “Neu Strukturieren” meinen Sie die europäische Ebene?
Es wäre nicht sinnvoll, wenn jeder im Kleinen sein Ding macht. Wir haben zum Teil in den Unternehmen und in gemeinsamen Projekten europäische Strukturen, aber noch viel zu wenig. Die fragmentierte Rüstungsindustrie in Europa muss dringend zusammenwachsen. Deshalb ist auch geboten, trotz der souveränen Interessen der Länder, dass wir das europäisch denken und tun.
Jedes Land würde also arbeitsteilig eine andere Rüstungsgattung produzieren?
Man muss in dieser Frage unterscheiden zwischen der etablierten Rüstungsindustrie und neuen Technologien, wo es noch keine etablierten Strukturen gibt. Solche lassen sich nicht ohne weiteres aufbrechen. Da müssen wir stattdessen in Gemeinschaftsprojekte und -programme kommen. In Europa haben wir das Problem, dass wir zu viele verschiedene Waffensysteme und Konfigurationen haben. Wir brauchen gemeinsame Standards. Dann müsste man auch nicht sagen: Nur einer macht Drohnen und die anderen machen das nicht. Und man müsste von keinem Land verlangen, dass es Kompetenzen oder Arbeitsplätze aufgibt. Im Gegenteil: Für die nötigen Stückzahlen und stabile Lieferketten brauchen sie die gesamten Industriekapazitäten, die auch noch weiter ausgebaut werden müssen. In den Bereichen, in denen Strukturen noch nicht etabliert sind, kann man natürlich gleich europäisch denken und sich die Frage stellen: Kann der eine dies machen? Kann der andere das machen? Was wäre eine ökonomisch sinnvolle Arbeitsteilung?
Zum Beispiel bei der Produktion von Drohnen.
Ich glaube, dass man da gestalten kann. Es gibt zahlreiche Drohnen-Player, die mit dem Marktbedarf skalieren. Da wird es eine Konsolidierung geben, und die kann man dann gleich europäisch denken.
Was sollte die Politik tun?
Auch wenn wir privatwirtschaftliche Strukturen haben und das auch so bleiben sollte, kann die Politik den Rahmen festlegen und die Standards setzen. Das beinhaltet gemeinsame Spezifikationen, die Verständigung auf das gleiche Gerät oder die Harmonisierung in Fragen der Exportkontrolle und der Regularien. Ohne diesen Rahmen ist es sehr schwer, wirklich sinnvoll in Europa zusammenzuarbeiten.
Konkret würde das den Bau etwa einer europäischen Drohnenfabrik bedeuten?
Ich weiß nicht, ob eine solche Fabrik unser Ziel sein sollte. Ich glaube, jeder möchte auch immer noch die Wahl zwischen zwei, drei Herstellern haben, Monopole sind ungesund. Aber wir sollten uns in Europa auf bestimmte Drohnentypen verständigen und diese Modelle in großen Stückzahlen mit resilienten Lieferketten produzieren.
Die strategische Bedeutung von Drohnen erleben wir gerade im Ukraine-Krieg. Was sind die aktuellen Tendenzen bei der Entwicklung, auch hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Funktionen?
Zunächst einmal: Kein Krieg, kein Gefechtsfeld ist mehr ohne Drohnen denkbar. Wir können unterschiedliche Missionen unterscheiden: Es gibt Drohnen mit Kameras zur Aufklärung. Sie übermitteln Zieldaten über die Stellung des Feindes etwa an die Artillerie, agieren also im Verbund mit anderen Waffensystemen und erzeugen das, was wir heute ein gläsernes Gefechtsfeld nennen. Das verändert die Art der Operation grundlegend. Es ist alles transparent. Dann gibt es Drohnen, die sozusagen fliegende Munition sind, sogenannte Loitering Munition, andere kommen in der Abwehr von Drohnen zum Einsatz. Die Spannweite reicht von ganz kleinen bis hin zu sehr großen Drohnen mit den unterschiedlichen Einsatz- und Verwendungszwecken.
Was bedeutet das für die anderen Waffensysteme? Verändert sich ihre Funktion, oder kommen die Drohnen „on top“?
Die Drohnen sind definitiv „on top“. Es wäre nicht richtig zu sagen: Ich brauche morgen keinen Panzer mehr, die Drohne kann das alles. Es geht darum, Territorium zu verteidigen oder wie im Fall der Ukraine Gelände zurückzuerobern und auch zu halten. Das geht nicht nur aus der Luft, Sie müssen die Füße auf den Boden bringen, dafür braucht es Landstreitkräfte, mit ihrem klassischen Material wie etwa Panzern. Aber es kommt natürlich auf die Kombination an, und man braucht vielleicht auch weniger konventionelles Großgerät, wie wir es im Kalten Krieg gesehen haben, da nun mal die Drohnen bestimmte Aufgaben übernehmen.
Was bedeutet dieses neue Sicherheitspanorama finanziell und wirtschaftlich?
Wir sind 30 Jahre signifikant unterinvestiert, das muss aufgeholt werden. Das geht nicht in zwei, drei Jahren. Und es reicht nicht, wenn die Bundesregierung jetzt 100 Milliarden Euro Sondervermögen bereitstellt. Wenn Europa zudem konventionell aufrüstet – wir reden jetzt nicht über nukleare Fähigkeiten –, um Aufgaben auch ohne US-Hilfe bewältigen zu können, dann reden wir von einer Billion Euro, die zeitnah investiert werden muss. Mit neuen Strukturen in Europa hätte die Rüstungsindustrie dann auch das Potenzial, andere Sektoren – zumindest teilweise – zu kompensieren, die im Moment schwächeln. Ein Rüstungsunternehmen kann natürlich nicht die deutsche Automobilindustrie retten, aber durchaus auf bestehenden Industrieanlagen und gut ausgebildeten Arbeitskräften aufbauen. Bei aller Pflicht, diese Industrie jetzt leistungsfähig hochzufahren, ist es meines Erachtens auch eine große Chance in der Wirtschaftskrise, den Schwung ein Stück mitzunehmen.
Der Wandel braucht Zeit. Andererseits haben wir in der Ukraine eine akute Lage. Wo sollte man beim Zeitplan Prioritäten setzen?
Es gibt vereinfacht gesagt zwei Zeitlinien. Was ist, wenn Russland die NATO an der Ostflanke testen will? Da haben wir ein Zeitfenster in den nächsten 12 bis 18 Monaten mit dem wir umgehen müssen. Dafür müssen wir kurzfristig unsere Abschreckungsfähigkeit und auch unsere Durchhaltefähigkeit auf Basis des verfügbaren Materials und Personals stärken. Wir brauchen Ersatzteile, wir brauchen Munition, wir brauchen auch Versorgungswege im rückwärtigen Raum, in der Infrastruktur. Parallel müssen wir mittelfristig unsere Flottengrößen, egal ob fliegend, fahrend oder schwimmend, wieder auf einen Stand bringen, damit wirksame Abschreckung langfristig funktioniert und wir der Ukraine zu einem langfristigen Frieden verhelfen können, egal welchen Status sie haben wird. Und dabei müssen wir mit autonomen Technologien neue Wege gehen. Wir wollen ja das Leben der Menschen schützen und sie nicht an die Frontlinie bringen, wenn es technisch andere Möglichkeiten gibt. Es gibt also zwei Zeitachsen, und beide müssen jetzt angestoßen werden. Neue Technologien bekommen wir nicht über Nacht. Wir müssen aber jetzt ohne weiteren Verzug Signale setzen, dass wir es ernst meinen und entsprechend handeln.
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