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Hendrik Brandis: "Heute sind Dinge möglich, die gestern noch wahnsinnig kapitalintensiv waren"

Der Mitgründer von Earlybird Venture Capital über den rasanten und tiefgreifenden Wandel im Venture-Capital-Markt durch DeepTech und KI sowie die Frage, mit welcher Strategie auch Deutschland endlich in großem Umfang am Potenzial innovativer Startups teilhaben könnte.

28. Mai 2025
Hendrik Brandis.

Dr. Hendrik Brandis ist Mitbegründer und Partner des Wagniskapitalgebers Earlybird Venture Capital, einem der größten Venture-Capital-Geber Europas, und Referent beim Wirtschaftsforum NEU DENKEN, das vom 12. bis 14. Juni in seine achte Runde geht. Earlybird investiert in den ganz frühen Innovationsphasen und sondiert dafür mit KI-Technologie jährlich rund 50.000 Startups in ganz Europa. Im Interview gibt Brandis einen Vorgeschmack auf die Analysen und Debatten von NEU DENKEN.

Die KI revolutioniert im Moment alle Arbeits- und Lebensbereiche. Wie zeigt sich das bei der Arbeit eines Risikokapitalinvestors?

Wir haben diese Adaption früh eingeleitet. Gerade in der Frühphase im Bereich Venture Capital stehen wir vor der Herausforderung, überhaupt Zugang zu den für Investitionen interessanten Start-ups zu finden. Typischerweise sind sie dann aus Selbstschutz noch im Stealth-Modus unterwegs, bleiben also bewusst unter dem Radar – sie wollen gar nicht im Internet gefunden werden. In der Vergangenheit mussten wir darauf hoffen, dass unsere Marke bekannt ist und sie uns finden. Oder wir haben unsere Netzwerke genutzt, um aktiv Kontakte zu machen. Das hat sich geändert: Vor acht Jahren haben wir mit einem KI-basierten IT-System begonnen. Mit ihm durchforsten wir kontinuierlich rund 200 Datenbanken und versuchen, Muster zu erkennen, die auf Innovation hindeuten.

Wie kann man sich das vorstellen?

Sagen wir, ein Herr Willi Plattes lädt bei der Softwareentwicklungs-Plattform GitHub einen Code hoch und erhält dafür gute Bewertungen, sucht gleichzeitig bei LinkedIn nach Data Scientists und meldet im balearischen Handelsregister eine neue Sociedad Limitada (S.L.) an. Dann sagt unser System: Mit dem Willi Plattes, mit dem müssen wir mal reden. Das klingt, als ob er eine Innovation im Kopf hat. Früher hatten wir ungefähr 15 Prozent Dealflow – also potenzielle Investitionsmöglichkeiten – aus Netzwerken und weiteren Quellen sowie 85 Prozent Inbound, also Anfragen von außen. Heute dagegen besteht unser Dealflow aus 75 Prozent Outbound. Gleichzeitig ist der Dealflow von ungefähr 8.000 auf rund 50.000 Investitionsmöglichkeiten pro Jahr gestiegen. Statt 20 bis 30 Prozent der Opportunitäten nehmen wir mehr als 90 Prozent wahr. Das sind dramatische Veränderungen.

Spielt die KI auch bei der Auswahl der Projekte eine derart zentrale Rolle?

In der Frühphase beruht unsere Selektion zu einem hohen Teil auf der Bewertung der Gründerpersönlichkeiten. Aber auch diese lässt sich ein Stück weit objektivieren und auf Daten basieren. Es fängt mit Trivialitäten an. Hat die Person schon mal ein erfolgreiches Unternehmen gegründet? Kommt sie oder er aus Stanford, Harvard oder aus Buxtehude? Die KI schaut in die Vergangenheit erfolgreicher Unternehmer und zieht dann Analogieschlüsse zu jetzigen Profilen. Es gibt etwa Muster im Social-Media-Verhalten, die typisch sind für erfolgreiche Unternehmer. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Willi Plattes ist ein erfolgreicher Unternehmer, weil er sich in den sozialen Medien entsprechend verhält. Das hat dann ein höheres Ranking bei der Selektion zur Folge.

Und wieviel Raum bleibt dann noch für das Bauchgefühl oder persönliche Erfahrungswerte?

Jede Entscheidung trifft ein Mensch. Wir nehmen regelmäßig ein Overruling vor, also eine manuelle Änderung der ermittelten Ratingergebnisse – dadurch wird die KI besser. Sie hilft in der Priorisierung, macht uns effizienter und stellt Daten zur Verfügung, mit denen wir dann aber als Menschen entscheiden.

Stichwort DeepTech, also Technologien, die oft bahnbrechende Innovationen ermöglichen: Welche Bereiche sind derzeit besonders interessant für Investitionen in Startups?

Sie können grundsätzlich unterscheiden zwischen Investitionen in Businessmodell-Innovationen einerseits und DeepTech-Deals andererseits. 2018 lag deren Anteil in Europa bei 18 Prozent. Vergangenes Jahr hat er sich auf 35 Prozent fast verdoppelt. Letztlich liegt das an der exponentiellen Beschleunigung der technologischen Innovation, und gleichzeitig mit dieser Beschleunigung nimmt die Kapitaleffizienz extrem zu. Damit sind heute Dinge möglich, die gestern noch wahnsinnig kapitalintensiv waren. Noch vor 20 Jahren wäre ein Venture-finanziertes Raketenunternehmen undenkbar gewesen. Dann hat SpaceX gezeigt, dass das kapitaleffizienter geht. Ähnliches gilt für Projekte in der Kernfusion – heute geht das. Und diese Liste kann ich immer weiterführen.

Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?

Das liegt meines Erachtens daran, dass bei technologisch differenzierten Deals das Risiko zu einem guten Teil in der Realisierung eines Konzeptes besteht, weniger aber im Product Market Fit, also der Markteignung. Beispiel Kernfusion: Wenn sie funktioniert, werde ich den Strom schon verkauft bekommen – da gibt es kein Marktrisiko. Anders gesagt: Kriege ich das hin, habe ich auch genug Geld dafür. Baue ich dagegen ein Unternehmen im Bereich Quick Commerce auf, dann ist es genau umgekehrt: Beim Aufbau der nötigen Systeme besteht eigentlich kein Risiko. Aber habe ich auch eine auskömmliche Marge, um die zusätzlichen Kosten für Quick Delivery zu bezahlen? Dieses Risiko bleibt.

Bei früheren Ausgaben von NEU DENKEN wurde bemängelt, dass Investoren in Europa weniger bereit seien, Risiken einzugehen, also „Wetten abzuschließen“. Das hat sich geändert?

Die Bereitschaft, Tiefen-Technologien zu finanzieren, hat zugenommen. Das liegt aber vor allem daran, dass die Kapitaleffizienz zugenommen hat. Es macht einen Unterschied, ob ich drei Milliarden Euro brauche, um eine Rakete in den Orbit zu bringen, wie das früher der Fall war, oder aber nur 350 bis 400 Millionen. Auf einmal wird das auch für private Wagniskapitalgeber verdaulicher. Ähnlich bei der Kernfusion. In der Vergangenheit sind 50 Milliarden Euro in die thermische Fusion geflossen. Wir versuchen jetzt die kinetische Fusion, da brauchen wir unter 400 Millionen Euro bis zum vollständigen Nachweis. Hinzu kommt: Durch die exponentielle Beschleunigung der Innovation hat sich das Feld potenzieller Investitionsmöglichkeiten wahnsinnig verbreitert. In den 80er- und 90er-Jahren gab es im Grunde eine Plattformtechnologie pro Dekade, auf deren Basis viele Start-ups entstanden sind. In den 80er Jahren war es der PC, in den 90er Jahren das Internet. Für die 2020er fallen mir unzählige innovative Plattformtechnologien ein, von denen jede für sich genommen so mächtig ist wie damals der PC oder das Internet. Das wären etwa KI, Metaverse, Blockchain, Cloud Computing, die Kommerzialisierung der Raumfahrt oder etwa in der Biotechnologie mRNA.

Dieses Potenzial, das Sie beschreiben, steht im Gegensatz zur derzeitigen Stimmung in Deutschland. Hat auch die deutsche Wirtschaft die Möglichkeiten, dieses Potenzial auszuschöpfen?

Das steht außer Frage. Es fehlt aber an ausreichendem Wachstumskapital, also an den notwendigen Investitionen. Dabei wären die Beträge da, man muss nur die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen: In den Zeiten des ersten Wirtschaftswunders zwischen 1950 und 1970 hat Deutschland zwischen drei und vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Wachstumsunternehmen investiert. Das ist damals im Wesentlichen aufgebracht worden durch die Mittelstandsbanken an das produzierende Gewerbe, also sozusagen die Grundigs dieser Welt, die damals entstanden.

Und heute?

Bei drei bis vier Prozent des Bruttosozialprodukts reden wir heute über 150 Milliarden Euro an Investitionen im Jahr. Tatsächlich waren es in den vergangenen Jahren aber nur jeweils sieben bis acht Milliarden Euro. Das ist in etwa der Faktor 20. Stellte früher das produzierende Gewerbe die Wachstumsunternehmen, sind es heute wissensbasierte Unternehmen. Und diese haben eben das Problem, dass ich sie nicht mit Fremdkapital finanzieren kann, weil sie keine Sicherheiten zur Verfügung stellen können. Aber das ändert nichts daran, dass ich im gleichen Umfang investieren muss. Das ist auch profitabel, aber ich brauche andere Akteure, andere Kapitalquellen. Diese Transformation ist uns im Gegensatz etwa zu den USA nicht gelungen. Dort basiert das Rentensystem auf privaten Pensionsfonds, und es gibt viele große Stiftungen. Sie investieren zu einem sehr signifikanten Teil in Venture Capital. Ein weiterer Punkt, der wichtig ist: Wir sollten ein Umfeld schaffen, in dem es für innovative kleine Unternehmen leicht ist, Dinge zu probieren und zu entwickeln.

Womit wir beim Thema Bürokratieabbau wären…

Wie zeitintensiv ist es, um überhaupt eine Firma zu gründen oder Genehmigungen zu erhalten? Es geht aber auch um die Regulierung neuer Technologien. Ich bin sehr dafür, dass man digitale Unternehmen reguliert. Die Frage ist nur: Zu welchem Zeitpunkt tut man das? Würgt man die Innovation ganz am Anfang ab, indem man Dinge zu stark einschränkt? Oder findet man Wege, am Anfang mehr Freiheiten zu lassen und abzuwarten, bis die Innovation dann tatsächlich gesellschaftlich relevant wird? Das würde Deutschland in einer bislang ungekannten Art und Weise an diesem Prozess teilhaben lassen. Denn die nötigen Fundamente in Form gut ausgebildeter, intelligenter Menschen sind vorhanden.

Das wäre auch Ihr Wunsch an die neue Bundesregierung?

Ja, aber der noch größere Wunsch ist: Schafft Rahmenbedingungen, damit Kapital in die Wachstumsunternehmen fließt. Wir haben nach der Finanzkrise über Solvency II, also die Harmonisierung des Versicherungsaufsichtsrechts in Europa, ein Regulierungsbeiwerk geschaffen, das in vieler Hinsicht sehr holzschnittartig ist im Hinblick auf die notwendige Eigenkapitalunterlegung für institutionelle Investoren. Wenn die deutsche Versicherungsindustrie jedes Jahr 300 Milliarden Euro neu investiert, davon aber faktisch nichts in Wachstumsunternehmen geht, sondern fast alles in Staatsanleihen, dann liegt das unter anderem auch daran, dass nach Solvency II Staatsanleihen als grundsätzlich risikofrei angesehen werden. Wenn eine Versicherung in Staatsanleihen investiert, kostet sie das eigenkapitalseitig nichts. Wenn sie hingegen in ein Wachstumsunternehmen investiert, kostet sie das zwischen 50 bis zu 100 Prozent Eigenkapital. Dabei sagt die Wissenschaft: Bei der Investition in ein qualifiziertes Portfolio von 250 bis 300 Wachstumsunternehmen ist das Teilverlustrisiko tatsächlich null. Solvency II lässt sich natürlich nicht über Nacht ändern. Man könnte aber aus der Not eine Tugend machen: Da ein so breit diversifiziertes Risiko kein Teilverlustrisiko hat, könnte die Bundesregierung eine Staatsgarantie dafür auflegen. Es wäre eine Win-Win-Situation.

Welche Auswirkungen beobachten Sie durch die Politik der Trump-Regierung auf die internationale Gründer- und Innovationsszene?

So unglücklich man über die neue US-Administration sein mag – sie gereicht uns in Europa und in Deutschland in vieler Hinsicht zum Vorteil. Da klingelt seit zehn Jahren der Wecker, und keiner ist aufgestanden. Jetzt hat jemand das Bett umgeschmissen, und das tut uns tatsächlich gut. Es gibt eine Rückbesinnung auf das, was wir selbst tun können und müssen, bei der Infrastruktur genauso wie bei der Verteidigung. Und die Trump-Administration tut alles, damit auf einmal nicht mehr die USA, sondern Europa als der sichere Hafen angesehen wird. Das hat enorme mittelfristige Auswirkungen im Hinblick auf den Talentfluss. Erstmals seit langem kommen in diesem Jahr mehr internationale Experten aus den USA nach Deutschland als umgekehrt. Wir werden vom Kapitalexporteur zum Kapitalimporteur. Die Verschiebungen auf den Kapitalmärkten werden einen stimulierenden Effekt haben, und das wird nicht ohne Auswirkungen bleiben.

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